Meine Kindheit war wunderschön. Wir lebten in einer Drei-Zimmer-Wohnung in Krasnojarsk, und besonders die Sommer bei meiner Oma im Dorf sind mir lebhaft in Erinnerung geblieben. In der Stadt spielte ich mit Freunden, besuchte Tanzkurse und malte. Im Dorf dagegen war alles anders: Ich backte Schlammkuchen, rannte durch die Felder, entzündete Lagerfeuer und genoss Kartoffeln und Speck aus Alufolie. Diese beiden Welten – Stadt und Dorf – waren ein großes Privileg.
Schon früh wusste ich, dass wir Deutsche sind. Stolz rechnete ich aus, dass ich „25 % Deutsch“ bin, und erzählte es begeistert meinen Freunden – ich fand es toll, ein bisschen anders zu sein. Als meine Eltern von einem Umzug nach Deutschland sprachen, nahm ich sie nicht ernst. Doch eines Tages war es soweit: Nach einer tränenreichen Abschiedsfeier und 14 Stunden Reisezeit landeten wir in Frankfurt. Meine Oma und mein Bruder holten uns herzlich ab.
Kurz darauf zogen wir für sechs Monate nach Friedland in eine Art „WG“-Zimmer. Dort besuchte ich die Schule und hatte meine ersten Berührungspunkte mit der deutschen Sprache, während mein Vater Sprachkurse belegte. Später kam auch meine Mama nach, und nach drei Monaten zogen wir gemeinsam nach Hof.
In Hof kam ich in die dritte Klasse der Grundschule. Ich erinnere mich noch gut an meinen ersten Schultag: Ich verstand kein einziges Wort, was die Lehrerin sagte. Doch mit der Zeit lernte ich die Sprache. Natürlich gab es schwierige Momente – Mitschüler nannten mich dumm, und eine Lehrerin meinte, ich würde es nie aufs Gymnasium schaffen. Aber ich ließ mich nicht unterkriegen und bewies das Gegenteil. Mein Papa unterstützte mich immer beim Lernen und motivierte mich, dranzubleiben. Bildung war meinen Eltern enorm wichtig.
2012 reisten meine Mama und ich zum ersten Mal nach Krasnojarsk zurück. Mein Bruder, der inzwischen wieder in Russland lebte, holte uns vom Flughafen ab. Die Überraschung für meine Cousine, die nichts von unserer Ankunft wusste, war ein tränenreicher Moment. Doch ich bemerkte, wie schwer es mir fiel, Russisch zu sprechen – nach drei Jahren war Deutsch zur vertrauten Sprache geworden.
Schon immer fand ich es faszinierend, zwei Sprachen zu sprechen – später kamen sogar zwei weitere dazu. Aber irgendwann wurde mir bewusst, dass ich in keiner Sprache wirklich perfekt war. Im Deutschen fühlte ich mich oft unsicher, im Russischen fehlten mir manchmal die richtigen Worte. Dieses Gefühl, irgendwie zwischen den Sprachen zu stehen, wurde immer präsenter. Es war, als würde ich zwischen zwei Welten schweben, ohne jemals ganz anzukommen. Aber genau dieses Dazwischen hat mich auch geprägt. Es hat mir gezeigt, dass Identität nicht immer klar definiert ist, sondern sich ständig weiterentwickelt. Heute sehe ich es als Stärke, beide Kulturen in mir zu tragen – auch wenn es manchmal herausfordernd ist, meinen Platz zu finden.
Vorletzten Sommer ist mein Vater plötzlich verstorben. Er war derjenige, der am meisten nach Deutschland wollte und unsere Familie stets zusammenhielt. Nach seinem Tod musste ich seine Aufgaben im Haushalt übernehmen, was anfangs sehr herausfordernd war. Sein Verlust hat eine Lücke hinterlassen, die nicht zu füllen ist, und ich begann mich zu fragen, wohin ich eigentlich gehöre. Als ich meine Oma Erna fragte, ob sie sich jemals zwischen zwei Welten gefühlt habe, antwortete sie schlicht, dass sie nie darüber nachgedacht habe – sie hatte immer andere Sorgen.
Heute lebe ich mit meiner Mama in der Wohnung, in die wir 2009 eingezogen sind. Sie ist nicht nur meine Mutter, sondern auch meine beste Freundin. Ich mache gerade meinen Bachelor in Kommunikationsdesign, besuche einen Tanzkurs und verbringe gerne meine Zeit in der Natur. Während ich diese Zeilen schreibe, pflanzt meine Mama unsere Pflanzen um und hört die Nachrichten. Kurz zuvor brachte sie mir einen Fruchtteller mit der liebevollen Drohung, dass ich meinen Bachelor bestehen müsse.


